Die Hochkultur zieht bei LEGO Ideas ein – und sie hat ihre roten Samtvorhänge und schweren Lüster mitgebracht. In Gestalt eines altehrwürdigen Opernhauses zieht „The Opera“ als 21. Entwurf ins 1. Review 2022 ein. Doch wie wir wissen, ist die Oper erst zu Ende, wenn die dicke Lady singt, und so warten wir noch bis Anfang Mai, ob der Lappen wirklich hochgehen darf. Weil ich Oliver an der Abendkasse kein Ticket hinterlegt habe, führe ich euch diesmal hinter die Kulissen des Entwurfs und in die Welt krampfhafter Theater-Metaphern.
Verantwortlich für den Entwurf ist Jiwoo aka Jiwoo Seon aus Seoul, Südkorea. Der Name wird einigen von euch vielleicht bekannt vorkommen, denn erst vor vier Wochen hat Jiwoo mit der Bibliothek den „Club der 10.000“ betreten – das ebenfalls modulare Gebäude hat euch Oliver bereits ausführlich vorgestellt. Erste Aktivitäten auf dem Ideas-Profil lassen sich im September 2019 finden, so richtig los ging es aber erst im Dezember 2021 mit der Bibliothek. Anfang Januar wurde dann bereits das Opernhaus online gestellt und erwies sich als ähnlich populär: Während die Bibliothek in 43 Tagen durchs Ziel sprintete, brauchte die Oper mit 48 Tagen nur unwesentlich länger.
Jiwoo begründet die Idee mit der Liebe zum „Musical“-Genre, möglicherweise ist hier aber auch etwas in der Übersetzung verloren gegangen und es ist das Musiktheater im Allgemeinen gemeint – immerhin sind zumindest die historischen europäischen Operngebäude, die der Entwurf zweifellos zitiert, nicht unbedingt als Hort des populären amerikanischen Genres bekannt. Hintergrund sind hierfür die für die ökonomische Auswertung ungünstige Sitzplatzierung mit schönen, aber raumfressenden Logenplätzen und deren speziellen Sichtlinien sowie der Repertoirebetrieb der Häuser, der eher für einen ständigen Umbau der aufgebauten Kulissen sorgt und nicht für das sogenannte „En suite“-Prinzip, also das wochenlange Spielen derselben Produktion, geeignet ist – neben der Tatsache, dass sich viele subventionierte europäische Häuser öffentlichkeitswirksam als Hüterin des alten Repertoires und sicherlich auch Förderung eines zeitgenössischen Musiktheaters, weniger aber als Bühne für die kommerzielle Spielform des Musicals verstehen.
Schauen wir also weniger, was auf dem Spielplan steht, sondern was uns das Gebäude zu bieten hat:
Von außen verströmt das Gebäude sandfarbene Gravitas: Breite Säulen stützen die Fenster, Stuck (das Greebling des Barock) verziert jeden freien Zentimeter, Fahnen und Banner proklamieren, dass hier „The Opera“ thront – eine wahre Bastion, in der sich selbst Wagemutige sicherheitshalber an drei Kilo Opernführer festhalten sollten. Für optische Auflockerung sorgen einige goldene Details, darunter die im klassischen Kanon eher selten zu hörenden Saxofone, und ein goldener Engel, den man vielleicht auch als mythologische Muse interpretieren könnte. Die schmiedeeisernen Straßenlaternen passen gut zum Eisentor, das man offensichtlich vor dem eigentlichen Eingang verschließen kann, wenn das frenetische Publikum mal wieder „wie in Hungersnot um Brot an Bäckertüren / um ein Billet sich fast die Hälse bricht“.
Die Innenräume sind dann platzbedingt etwas weniger opulent und ringen damit, die ausladende Architektur eines Opernhauses auf ein Minifiguren-geeignetes Maß zu bringen. Neben einem schmalen Treppenaufgang und Foyerbereich, der die träge Masse zu den Sitzen schieben soll, füllt dann der eigentliche Aufführungssaal einen Großteil des inneren Modulars. Der Zugang für uns Großgewachsene erfolgt geschickt durch eine aufklapp- und auffaltbare Rückwand, die das Gebäude quadratisch, praktisch, gut abschließt, aber auch bequem ans Allerheiligste gelangen lässt. Von der Bühne ist auf den Renderings kaum etwas zu sehen, sie wird aber auch nur um die drei Noppen tief sein, davor ist ein ebenfalls kleiner, aber korrekt abgesenkter Orchestergraben zu erkennen. Der notorische rote Samtvorhang, im Entwurf bereits gerafft, darf natürlich nicht fehlen. Gut abgebildet sind die verschiedenen Bereiche des Zuschauerraums: das sogenannte Parkett, in dem fünf dichte und korrekt ansteigende Reihen mit ebenfalls rotem Samtbezug das Publikum verschiedener Preisklassen fassen, und darüber ein unter anderem im Ballett beliebter „Rang“, von dem die geneigten Besucherinnen einen guten, fast schwebenden Überblick über die gesamte Bühne haben. Sehr besonders und gut getroffen sind die beiden Logen, bei denen (auch hier in Übereinstimmung mit der Realität) nicht ganz klar ist, wer hier eigentlich wem zuschaut: Präsentieren sich die gut betuchten Logen-Gäste dem restlichen Publikum, wollen sie sich einfach nur in Ruhe und abgetrennt vom Pöbel unterhalten – oder interessiert auch das Bühnengeschehen? Die Zeit, in der das Kleid der Fürstin mindestens so interessant war wie die Koloraturarie auf den Brettern, ist aber zumindest in einigen Gefilden schon länger vorbei.
Aufgrund der genannten Platzproblematik bleiben ganz viele Bereiche natürlich unbelichtet: Es gibt keine Bar für den obligatorischen Premierensekt, kein Einsingzimmer, weder Garderobe fürs Publikum noch zum Ankleiden der Sängerinnen, keine Probebühnen, Requisite, Verwaltungsbereiche usw. Für die mehreren hundert Mitarbeiter an einem solchen Haus, die über die verwinkelten Gänge schlurfen (Fun Fact: In einem Theater darf man auf den Fluren nicht pfeifen, weil das zu Zeiten der gasbetriebenen Lampen ein Ton war, der ein gefährliches Leck anzeigte), wäre selbst bei einem Vielfachen des Maßstabs verständlicherweise zu wenig Platz gewesen, und so konzentriert sich Jiwoo, wie auch bei den offiziellen Modulars üblich, auf das Herzstück des Baus.
Kritiker:innen digitaler Entwürfe dürfen sich bei dieser Idee übrigens entspannen: Auf dem zugehörigen Instagram-Kanal präsentiert Jiwoo eine tatsächlich gebaute Version der Oper, die mit den (möglicherweise extern) verchromten Teilen auch durchaus schick aussieht. Ich habe euch ein Foto in die Galerie am Ende dieses Abschnitts gestellt.
Schauen wir uns zuletzt noch ein paar Fakten an: Dem Entwurf beigelegt ist eine Art hochdekorierter Opernintendant mit goldenen Epauletten, das Opern-Abonnement muss sich dann wohl aus der eigenen Stadt rekrutieren. Die Teileanzahl liegt auffällig genau bei 2.999 Teilen, also messerscharf (und mit Blick auf den Detailgrad auch sicherlich absichtlich) unter der maximal erlaubten Teileanzahl von 3.000 Steinen. Neben dem erwähnten Klappmechanismus lassen sich die Ebenen auch noch einzeln auseinandernehmen.
Weitere Detailbilder findet ihr in unserer Galerie:
Übersicht aller Ideen im 1. Review 2022:
Mir persönlich gefällt der Entwurf gut – und ich freue mich, dass mit der Bibliothek und jetzt der Oper ein paar hübsche Kulturinstitutionen in die lange Reihe von modularen Ideas-Entwürfen einziehen, die sich zudem in recht kurzer Zeit die Begeisterung der Community sichern konnten, obwohl sie keiner Fernsehsendung, Band oder anderen populären Lizenz entspringen. Mit ihrer aufwendigen neobarocken oder klassizistischen Fassade würde sie in meinen Augen auch gut in eine modulare Häuserzeile passen.
Im Inneren fehlen mir weniger zusätzliche Räume, aber doch ein paar reizvolle Details, die mit wenigen Teilen noch augenzwinkernd eine Geschichte erzählen: Die Telefonzelle, wo der Chefkritiker seine nächtliche Kritik direkt im Applaus zur Redaktion diktiert, der Brezelständer für den kleinen Hunger vor der Premiere, die Abendkasse, vor denen noch die Ticket-Reseller lauern, und der schmutzige Bühneneingang, durch den die Diva ins Haus schlüpft, bevor sie zu „La Traviata“ wird. So bleiben die leeren Marmorgänge im Inneren doch etwas aseptisch. Der Zuschauerraum ist aus meiner Sicht hingegen gut getroffen und könnte auch leicht mit eigenen Figuren belebt werden.
Insgesamt könnte man sicher lang und breit über das kulturelle Prisma schreiben, das dieser Entwurf ist: Ein prunkvolles europäisches Gebäude, durch südkoreanische Augen gesehen und mit LEGO Steinen verdichtet. Gerade dadurch ist hier für mich ein überzeugendes Destillat gelungen.
Die Chancen bei Ideas stehen meines Erachtens hingegen so gut oder schlecht wie bei allen Gebäuden im modularen Stil. Abseits vom erstaunlich nah an die Modular-Reihe kommenden „Home Alone“-Set schafften es alle diese Gebäude (unser täglich Bricky_Brick gib uns heute) nicht durchs Review. Sollte sich in einer annehmbaren Teileanzahl dieses lizenzlose Gebäude tatsächlich umsetzen lassen, dürften die Architektur- und Kulturfreunde unter uns aber vielleicht aufs nächste AFOL Designer Program hoffen.
Fürs Ideas-Review selbst schätze ich die Umsetzung als sehr unwahrscheinlich ein.
Nun interessiert mich eure Meinung! Leiert ihr nur die Augen über eine modulare Idee von vielen oder gefällt euch das Opernhaus? Habt ihr eine modulare Stadt und könntet ihr euch eine solche Einrichtung bei euch vorstellen? Wie gefällt euch die Umsetzung außen und innen – gut komprimiert oder lieblos? Und schließt ihr euch meiner Meinung an, was die Umsetzbarkeit betrifft? Schreibt uns eure Opernkritik in die Kommentare.